Der Zeitpunkt des Tyrannensturzes wirft Fragen auf. Es verwundert nicht, dass er im Frühjahr geschah. In Kyrgyzstan ist öffentliche Gewissheit, dass politische Aktionen auf den Frühling und den Herbst gelegt werden müssen. Der Winter ist wetterbedingt nur schlecht geeignet, Menschenmassen zu organisieren und sie für längere Zeit für die Straße zu mobilisieren. Ganz im Gegenteil, in den Monaten Dezember und Januar stehen die Zeichen immer gut für einen jeden Herrscher, in den oberen Etagen der Macht geheime Deals auszuhandeln. Die Manipulationsmaschine läuft auf Hochtouren, während eine schlafende Öffentlichkeit immer nur verspätet reagieren kann. Im Winter 2006 / 2007 beispielsweise organisierten Bakiev und seine Administration die Kehrtwende von der Novemberverfassung; und im Dezember 2007 die Wahlen zum Parlament, bei denen die Opposition in Form von Ata-Meken aus dem politischen Spiel bugsiert wurde, ohne dass sich großer Protest erhob.

Auch der Sommer eignet sich kaum für große politische Auseinandersetzungen. In früheren Zeiten war dabei ausschlaggebend, dass sich das Parlament in seine lange Sommerpause begibt und somit eine der wichtigsten Bühnen für den politischen Streit geschlossen bleibt. Auch wenn auf Grund eines tendenziell als Einparteien-Parlament organisierten Zhogorku Kenesh die Bühne seit Anfang 2008 an Attraktivität verloren hat, bleibt die Regel bestehen und wird unterstützt von der Tatsache, dass sich ganz Kyrgyzstan im Sommer in den Urlaub aufmacht. Der Issyk-Kul wird überbevölkert und die staatlichen Administrationen verweisen. Selbst die Internationalen machen sich raus aus Bischkek. Mit wem sollten sie auch entwicklungskooperieren, wenn die zu entwickelnden Partner abwesend sind? Nein, der Sommer ist, die unerträglichen Hitze unterstreicht es, kein guter Zeitpunkt, um politisch aktiv zu sein. Es sind Frühling und Herbst, die diese Triebe wecken. Die Bewegung ‚Für Reformen‘ hatte ihre Erfolge im April und Mai 2006 und ihren großen Durchbruch im November desselben Jahres. Die ‚Vereinigte Front ‚Für eine Würdige Zukunft Kyrgyzstans“ forderte Bakiev im April 2007 heraus. Am Anfang dieser Ereigniskette steht die Tulpenrevolution, die im März 2005 die politischen Verhältnisse im Land umkippte. Und selbst Ryspek Akmatbaev, der oben bereits erwähnte Robin Hood der kyrgyzischen Unterwelt, konzentrierte seine Aktionen auf den Herbst 2005 und das Frühjahr 2006.

Angesichts dieser Tradition, in Kyrgyzstan ungeschriebenes Gesetz und von der Öffentlichkeit erwartet, verwundert es nun nicht, dass der Sturz Bakievs sich den April aussuchte, um organisiert zu werden. Bereits im Februar sprach man ja schon von einer möglichen Belebung der politischen Auseinandersetzung, sobald nur der Schnee von den Straßen verschwunden ist. Die Frage, die sich dagegen durchaus stellt, lautet: warum war der Sturzversuch erfolgreich?

In den Politikwissenschaften hat die Regimeforschung und haben Untersuchungen zu Wandel und Persistenz sogenannter hybrider Regime eine Vielzahl an Thesen hervorgebracht, die zu erklären beanspruchen, warum wann wo in der Welt ein politisches Regime komplett kollabiert, sich wandelt oder aber schlicht unempfindlich gegenüber jeglichen Einflüssen bleibt. Dabei setzen die meisten Thesen über den Wandel von politischen Regimen, insbesondere über Brüche in der Reproduktion autoritärer Herrschaft, an der Identifizierung extremer Bedingungsgefüge an. Fast durchgängig lautet das Argument, dass Wahlen, zum Parlament oder zur Präsidentschaft, jene Beflügelung politischer Auseinandersetzung erlauben, die einen Herrscher aus dem Amt jagen kann. Die Bunten Revolutionen wurden nicht umsonst auch als Wahlrevolutionen bezeichnet, bei denen im Augenblick des Aufkommens irgendwie als kompetitiv zu beobachtender politischer Verhältnisse die öffentliche Meinung umschlug und zur Mobilisierung einlud.

Dass ein Herrscher und sein Apparat allerdings während einer laufenden Legislaturperiode zum Rücktritt gezwungen werden, dürfte in den sowjetischen Nachfolgestaaten einmalig sein. In Zentralasien gab es außer dem Rausschmiss des vorherigen Präsidenten Askar Akaev in Kyrgyzstan nur den Wechsel von Nijazov zu Berdymukhammedov in Turkmenistan. In dieser Despotie verstarb der Führer aller Turkmenen ohne konkret die Nachfolgeregelung organisiert zu haben. An der Form des Regierens hat der Wechsel zu Berdymukhammedov gleichwohl wenig geändert. Im weiteren GUS Umfeld konnten autoritäre Herrscher immer nur im Zusammenhang mit Wahlen unter Druck gesetzt werden und selbst dieser Fall ist, Putins Russland macht es vor, nicht immer gegeben.

Ausgegangen wird gemeinhin davon, dass Wahlen, so sehr sie auch manipuliert und korrumpiert werden, ein Moment der Unsicherheit ins politische Spiel bringen. Legislative Vorbehalte müssen zeitgleich mit prozessuralen Erfordernissen kontrolliert werden und das übersteigt mitunter die Kapazitäten der herrschenden Elite. An diese Unsicherheit knüpfen politische Gegner an und versuchen sich in einer Mobilisierung von Anhängerschaft. Da der Herrscher bis zuletzt den Daumen auf dem Wirken seiner Administration hält und einem formalen Sieg der Weg blockiert ist, wächst der Druck auf der Straße. Irgendwann kocht hier das politische Blut über und schlägt sich seine Bahn bis in den jeweiligen Präsidentenpalast. Oder wird vorher mit repressiven Mitteln daran gehindert. Zentralasien hat beide Szenarien erlebt, mit der Tulpenrevolution den erfolgreichen Palaststurm, mit Andijon die Niederschlagung. Georgien und die Ukraine gelten wiederum als Beispiele erfolgreicher Wahlrevolutionen, während in Belarus die Demonstranten tapfer ausharrten, aber letztlich Lukaschenko unterlegen waren.

Die Ereignisse vom 7. April verorten sich jenseits der These von der Wahlrevolution. Und doch scheint diese Tatsache allein noch nicht Grund genug, einmal nach neuen Argumenten Ausschau zu halten. Die Aufzählung möglicher kausaler Ursachen, von mir im ersten Teil geleistet, lässt sich vielleicht noch als typischer Reflex in einer Ausnahmesituation abtun. Anders sieht es mit den Beiträgen aus, die sich sich auf themonkeycage.org finden lassen. Hier versuchen sich Politikwissenschaftler wie der Zentralasienexperte Scott Radnitz oder der Regimeforscher Lucan A. Way, bekannt durch seine Arbeiten zum competitive authoritarianism, in einer ersten Einschätzung der Ereignisse. Dabei überraschen die Anstrengungen, mit denen diese Autoren den Tyrannensturz ihren gängigen Argumentationen unterordnen möchten. Radnitz beispielsweise zeichnet die Konfliktlinien weiter bis zu einem Bürgerkriegsszenario, welches in Kyrgyzstan irgendwie nicht stattgefunden hat. Obwohl Radnitz noch mal ausführlich auf seine Mobilisierungsmechanismen abhebt, die er an anderer Stelle am Beispiel der Aksy-Ereignisse so fein säuberlich dargestellt hatte. Und die auch im vorliegenden Fall hätten greifen können, es aber irgendwie nicht getan hatten. Was sich an dieser Verweigerungshaltung der Geschehnisse vom 7. April ablesen lässt, bleibt der Autor allerdings schuldig. Irgendwie geht es um die Wiederholung der einmal erfolgreich platzierten These vom ‚localism‘.

Ähnlich ist es bei Way, der Kyrgyzstan gerade heraus zukünftiges Scheitern unterstellt. Nicht, dass sich Ways Kyrgyzstanexpertise durch irgendwelche Ortssachkenntnis auszeichnet. Vielmehr ist es auch hier wieder der Versuch, das Geschehen der bekannten Argumentation vom schwachen Staat und der zersplitterten Opposition zuzuordnen. Ein Modell, dass der Regimeforscher bei der Interpretation von Regimeentwicklungen weltweit zur Anwendung bringt. Der Staat fiel, weil er schlichtweg zu schwach war und die Opposition wird scheitern, weil sie eben nicht geeint genug auftritt. Wie spannend! Dass gerade Radnitz und Way, die beide zuvor über die Tulpenrevolution beziehungsweise über Wahlrevolutionen und Regimewandel in Wahlen geschrieben hatten, nun zu vergessen scheinen, dass sich im vorliegenden Fall die Ausgangsbedingungen so ganz anders präsentieren, überrascht doch sehr. Hinzu kommen die tendenziell düsteren Ausblicke für Kyrgyzstan. Das Land ist nach Meinung der Experten verdammt: alle strukturellen Voraussetzungen müssen einen zum Schluss kommen lassen, dass auch in Zukunft nichts großartiges erwartet werden darf. Dieses Herbeibeten von Misserfolg gewinnt in meinen Augen die Form einer ’self-fulfilling prophecy‘. Wenn man es nur häufig genug ausspricht, wird es schließlich auch passieren. Vielleicht wäre es ‚weise‘ sich zu Beginn ein bisschen weniger prophetisch zu geben, sondern dafür mehr Energie für den Versuch aufzuwenden, Sonderliches und Absonderliches in diesen Geschehnissen voneinander zu trennen.

Womit ich wieder beim Zeitpunkt der Geschehnisse wäre. Mein Eindruck ist, dass der 7. April besser verstanden werden kann als ein Ereignis, dass symptomatisch steht für eine neue Ägide, für die ’nächste Gesellschaft‘, von der beispielsweise Dirk Baecker spricht. In dieser nun wirklich als Weltgesellschaft zu bezeichnenden Gesellschaft ist öffentliche Aufmerksamkeit in ihrer Wirkung durch die Einbettung in computergestützte Netze um ein vielfaches stärker. Und schneller. Die Möglichkeit, eine gesellschaftliche Angelegenheit nach der anderen zu erledigen, wird immer mehr zu einer Ausnahme in einer Welt, in der die Weltöffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit in Sekundenbruchteilen neuen Ereignissen zuwenden kann. Nun muss man ständig damit rechnen, ins Scheinwerferlicht zu geraten und Rede und Antwort stehen zu müssen. Dagegen unternehmen lässt sich wenig, außer vielleicht der totale Selbstausschluss aus dieser Weltgesellschaft. Turkmenistan und Nordkorea scheinen diesen Weg zu versuchen. Wo man diesen Versuch unterlässt, unterliegt man dem Wagnis, jeden Moment mit einer kontrollierender Weltaufmerksamkeit bedacht zu werden. Ohne dass es noch viele Anzeichen gibt, anhand derer man sich im Umgang mit solchen Aufmerksamkeitsschwenks orientieren könnte. Allein permanente Reflektion über das eigene Vorgehen verspricht, für den Fall eines Schwenks mit Erklärungen gewappnet zu sein. Ohne zu wissen, ob diese auch tatsächlich stechen werden. Es bedeutet auf der anderen Seite, viel stärker vom Zufall abhängig zu werden und immer weniger darauf vertrauen zu können, einmal gemachte Pläne noch eins zu eins umsetzen zu können. Und wahrscheinlich gilt das noch weniger für Vorhaben in der Politik, die in ihrem Spiel letztlich doch nur Kontingenz akzeptiert.

Mir ist klar, dass eine Erklärung für die Ereignisse vom 7. April, die auf Zufall rekurriert, wenig befriedigend ist. Mit geht es aber auch weniger um eine Schau inhaltlicher Kausalketten, mit denen man den Tyrannensturz in ein festes Faktorengefüge packen kann, sondern vielmehr um die Suche nach passenden Beschreibungen für die Form, die dieses außergewöhnliche Ereignis angenommen hat. Dabei meine ich an der Rolle der ’social media‘, der Zäsur des Massakers und dem vermeintlichen Zufall des Zeitpunkts, feststellen zu können, dass das Ereignis als etwas ganz anders verstanden werden kann, als was es in den meisten bisherigen Kommentaren und Analysen aufgefasst wird. Gleichzeitig werde ich dabei von dem Gedanken geleitet, dass auch im Hinblick auf die Zukunft eine jede Beschreibung dieser Ereignisse mehr Anschlussfähigkeit verspricht, wenn sie sich inhaltlich nicht unwiderruflich festlegt, sondern abstrahiert und die Vielfältigkeit von existierenden Beobachtungen miteinbezieht. Stimmt die These von der ’nächsten Gesellschaft‘, dann kann auch davon ausgegangen werden, dass immer nur Anschluss hält, wer in der Lage ist, neue Fragen zu stellen, weniger der, der auf alles immer schon Antworten parat hat.

Die ‚live‘ Übertragung der Ereignisse vom 7. April bewirkte auch, dass man sich in ihrem Anschluss die Frage stellen musste, ob die im Zeitverlauf steigenden Opferzahlen noch immer etwas mit der verzögerten Wiedergabe der Medien zu tun hatte, diese also Mühen hatten, ein Ereignis in seiner ganzen Fülle abzudecken, oder aber hier schlicht dem Verlauf des Geschehens getreu gefolgt wurde. Am frühen nachmittag wurden ein paar Tote gemeldet, am späten Abend stieg die Zahl auf über 40 und am nächsten Tag war man bei einer Zahl weit jenseits der 60 angekommen. Inzwischen sind mehr als achtzig Opfer zu beklagen. Auch diese letzten sind nicht verspätete Informationslieferungen, sondern Opfer, die ihren Wunden in den Krankenhäusern erlegen sind.

Diese unfassbare Anzahl von Toten markiert eine Zäsur, von der man noch gar nicht weiß, wofür sie steht. Und während sich das neue offizielle Bischkek darum bemüht, den ‚Gefallenen‘ neben dem Grab des Landesvaters Chingiz Ajtmatovs die letzte Ehre zu erweisen und für zwei Tage Trauer verordnet, ist der Rest des Landes damit beschäftigt zu begreifen, was da überhaupt vorgefallen ist und wie das passieren konnte. Und je mehr man sich die Einzelheiten zu einem Bild zusammenlegt, desto deutlicher wird, dass es sich bei den Toten weniger um die tragischen Opfer einer Massenkonfrontation handelt, sondern vielmehr um das Ergebnis von Versuchen, Demonstranten gezielt zu töten. Auffällig hoch ist die Anzahl derer, die durch einen Schuss in den Kopf oder die Brust getötet wurden. Das zeigt die Liste der Gefallenen, in welcher auch die Todesursache bezeichnet wird, und die in den letzten Tagen regelmäßig zum Gedenken im neuen Fernsehen gezeigt wird. Und es erklärt, warum so viele Verletzte noch anschließend ihren Wunden erliegen. In den Krankenhäusern herrscht Notstand, denn verletzt sind viele Hunderte, mache Angaben sprechen von mehreren tausend Verwundeten. Berichte über die Versuche der Ärzte, Leben zu retten, zeigen immer wieder deutlich, mit was für einer Herkulesaufgabe ein Krankenhaussystem konfrontiert ist, das seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Grunde genommen nur Niedergang hat erfahren dürfen, aber bestimmt keinen Aufbruch oder Aufbau.

Die Zäsur ist insofern relativ einfach zu verorten, als das sie bezeichnet, was vorher nicht war. Egal welche Auseinandersetzung in der jüngeren Geschichte Kyrgyzstans man zur Vorlage nimmt, überall ist die Gewalt eingegrenzt, nimmt nie die Ausmaße an, die jetzt zu beobachten waren. Wenn es doch zu einem Gewaltausbruch kam, wie beispielsweise im Falle der Ereignisse von Osch im Juni 1990, wird auf den Unterschied hingewiesen, dass es sich hierbei um einen interethnischen Konflikt handelte, bei dem Kyrgyzen gegen Uzbeken standen. Und der Hinweis erfolgt auch nur, wenn man sich an das Ereignis erinnert was angesichts der Materiallage und der mangelhaften öffentlichen Aufarbeitung ein unwahrscheinlicher Vorgang ist. In allen anderen Fällen politischer Konfrontationen produziert der Vergleich mit dem Ereignissen vom 7. April ein großes schwarzes Loch. Das bisherige Trauma des vergangenen Jahrzehnts, die Ereignisse von Aksy, als sechs Demonstranten bei einem Zusammenstoß mit Polizeieinheiten ums Leben kamen, weist mit seiner langen Geschichte unterschiedlicher Versuche der juristischen und politischen Aufarbeitung fragend in die Zukunft. Wenn diese Geschichte bis heute nicht zu einem befriedigenden Abschluss gebracht werden konnte, ist dann diese Tragödie überhaupt verhandelbar? Das Massaker vom 7. April scheint alle Dimensionen zu sprengen.

Auch im Vergleich mit den Auseinandersetzungen in den letzten Jahren seit der Tulpenrevolution präsentiert sich der 7. April auf Grund seiner vielen Opfer als ein isoliertes Ereignis. Weder kann man in der Tulpenrevolution vom März 2005 eine Parallele suchen, noch bieten die vielen Konfrontationen in den Folgejahren, zwischen den Bewegungen ‚Für Reformen‘ und der ‚Vereinigten Front‘ hier und der Herrschaft Bakievs dort, eine Möglichkeit, die jüngsten Geschehnisse als etwas Bekanntes zu verbuchen. Damals waren die Anhänger von Opposition und Regierung regelmäßig aneinander geraten. Im November 2006 kam es vor dem Gebäude des Parlaments, dem Zhogorku Kenesh, zu einem kurzen Zusammenstoß, den die Sicherheitskräfte allerdings schnell beendeten. Es gab ungefähr ein Dutzend Verletzte, die in Krankenhäusern verarztet wurde. Auch im April 2007, als die Vereinigte Front aufmarschierte, kam es nach einer Woche Proteste zum Zusammenstoß. Damals, am 19. April, griffen die Sicherheitskräfte unter Innenminister Bolotbek Nogojbaev entschieden ein und lösten die Proteste im Rahmen einer Nacht- und Nebelaktion auf. Es wurde geschossen, Tränengas machte sich in den Straßen rund um das Weiße Haus breit; Tote gab es aber auch dabei nicht zu beklagen. Angesichts der Erinnerungen an diese politisch motivierten Auseinandersetzungen bedarf es schon fast nicht mehr der Erwähnung all der anderen brenzligen Situationen, in denen unblutig der Aufmarsch von Tausenden von Demonstranten vor dem Regierungssitz in Bischkek gestoppt werden konnte. Ich erinnere nur an die Anhänger des kyrgyzischen Robin Hood, Ryspek Akmatbaev, die sich im Herbst 2005 auf dem Ala-Too Platz versammelten und im März 2006 bei einem weiteren Protest Bakiev zwangen, zu ihnen hinaus auf den Platz zu kommen. Oder die ‚zweite Einnahme‘ des Weißen Hauses im Sommer 2005 durch die Gefolgsleute Urat Baryktabasovs, die ebenfalls den Einsatz der Sicherheitskräfte erforderlich machte. Fünf Mitglieder der Polizeikräfte wurden verletzt, Tote gab es hingegen auch hierbei nicht zu beklagen.

Was vor einigen Tagen hier in Bischkek geschah, lässt sich nur schwerlich in eine Linie stellen mit der langen Tradition politischer und weniger politischer Demonstrationen vor dem Weißen Haus. Hier wurde doch ständig gefochten, wurde in der Spannung zwischen Spiel und Ernst das Recht getestet, sich seinem Frust lautstark Luft zu verschaffen. Und dabei durften Strategien verfolgt, die Taktik angepasst und auch der ein oder andere Trick geübt werden. Wer erinnert sich hier nicht an die knapp 1500 Polizistinnen, die Innenminister Sutalinov im Frühjahr 2006 als Präventivmaßnahme unter die Demonstranten der Bewegung ‚Für Reformen‘ entsandte. Die Protestaktion wurde ein friedliches Happening, das alle Beobachter auf Grund seiner Friedfertigkeit für sich einnahm. Selbst die politischen Gegner zollten der Aktion damals Respekt. Irgendwie bedeutete die Tradition solcher Proteste ja auch, dass man Politik eben nicht als NullSummenSpiel begriff, sondern immerzu aufgefordert war, die Option weiterer Kompromisse miteinzukalkulieren.

Angesichts der vielen Toten regt sich bei den ersten Hinweisen auf Verhandlungen mit dem Präsidenten, um die ungeklärte Situation zu regeln, Protest. Unverständnis wird laut gegenüber der Absicht, nach dem deutlichen Bruch mit der Tradition wieder zu ihr zurück kehren zu wollen. Gleichzeitig präsentiert die Zäsur hier, in dieser Frage, auch ihr Potential für neue Kontingenzen. Denn wie es nach dem Bruch der Tradition nun weiter gehen soll, weiß niemand. Bishkek versucht zum Alltag überzugehen, aber die Trauerstätte vor dem Weißen Haus wird immer nur größer und wird auf ihre Art und Weise ein Mahnmal. ‚Business as usual‘ wollen die Geschäfte und Cafes der Hauptstadt spielen, aber geschlossen wird immer noch früher und die Bankautomaten fangen erst sehr zögerlich an, wieder Geld auszuspucken. Klar, vieles hat mit der ungeklärten Lage des Verdammten, Kurmanbek Bakiev, zu tun. Aber selbst wenn diese Frage mal eine Antwort findet, bleiben viele andere bestehen (Gerade kam die Nachricht, er habe das Land verlassen. Akipress berichtet, Edil Bajsalov habe diese Information über ‚twitter‘ in die Welt gestreut). Wie will eine neue Regierung, eine neue Exekutive, überhaupt agieren, wenn von Beginn an das Damoklesschwert des Vertrauensentzugs über ihr hängt. Ein leiser Verdacht von Günstlingswirtschaft und es fällt. Symptomatisch der hyperkritische Kommentar Ulugbek Babakulovs, der misstrauisch das Tekebaev’sche Vorhaben konstitutioneller Garantien für politische Opposition beäugt und fragt, wozu denn Opposition überhaupt notwendig sei, wenn die neuen ehrlich arbeiten würden. Babakulov macht hier bereits erste Anzeichen für mögliche Korruptionsabsichten aus, in kompletter Ausblendung der struktureller Notwendigkeiten eines politischen Systems.

Die Toten sollen gewürdigt werden, ihr Opfer, so mahnen es zur Zeit viele Transparente und Gedichte an, die an den Zaun des Weißen Hauses angebracht wurden, darf nicht umsonst gewesen sein. Geht nun die neue Macht, wie man sie nennt, an dieser öffentlichen ‚Über’Erwartung zu Grunde, bevor man ihr Gelegenheit gegeben hat, ernsthaft enttäuschen zu können? Schmeißen Tekebaev und Sariev hin, bevor sie die notwendigen Reformen des politischen Systems und des Staatsaufbaus angepackt haben? Am 8. April beispielsweise tauchte das Gerücht auf, der Bruder Tekebaevs sei im Bazar-Korgon Rajon, der Heimat des Ata-Meken Vorsitzenden, zum Akim ernannt worden. Das Gerücht konnte als solches entlarvt werden, bevor der Sturm der Entrüstung sich voll entfalten konnte. Empörung hatte sich dennoch breit gemacht. Und zwar öffentlich. Gefolgt von dem vorschnellen Urteil, man beobachte hier nur die Wiederholung der immer gleichen kyrgyzischen Tragödie.

Meine Sorge ist anlässlich dieser und ähnlicher Episoden, dass den neuen Mächtigen kaum Spielraum gegeben wird, um auch Fehler machen zu dürfen. Stattdessen wird umgehend übereifrig (ab)geurteilt. Die Chance, noch einmal nachzufragen, wird abgelehnt mit dem Hinweis, das sei den Ereignissen vom 7. April nicht angemessen. Was öffentlich gewollt ist und was die Zäsur der inzwischen 84 toten Demonstranten auferlegt, ist die Vermeidung eines jeden weiteren Fehlers. Die Antworten der Politik müssen stimmen und sollten sich nicht die Blöße geben, suchend und nicht-wissend Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Entscheidungsspielräumen in der Zukunft zu ertasten (Stichwort Kontingenz!). Das aber wiederum zeichnet ein modernes politisches System in seiner Funktion aus. Ich hoffe daher, dass sich der Schrecken über die Ereignisse in Kyrgyzstan vom 7. April früher oder später in rechtliche Urteile zur Abstrafung von Verantwortlichen übersetzen lässt und in eine politische Erzählung, die Grenzen markiert ohne deterministisch zu sein. Die Ereignisse von Aksy haben bereits in aller Deutlichkeit gezeigt, wie ein Drama zur Bürde der Politik wird, wenn es keinerlei Verarbeitung, weder rechtlich noch politisch, zugeführt wird. Ganz abgesehen von den betroffenen Menschen, die mit der Ungewissheit über Schuld und Verantwortung leben müssen. Und häufig daran verzweifeln.

Die jüngsten Ereignisse in Kyrgyzstan scheinen noch nicht ihr Ende erreicht zu haben, doch erste Versuche, das bisherige Geschehen in eine sinnvolle Erzählung zu gießen, haben bereits eingesetzt. Wahrscheinlich ist das ganz normal. Und die Frage, wie das alles passieren konnte, steht, wahrscheinlich auch ganz normal, an vorderster Stelle. Selbst die Antworten, die in Kurzbeiträgen im Fernsehen oder in Zeitungskommentaren und Blogeinträgen präsentiert werden, zeugen von einer deutlichen Offensichtlichkeit. Und geben vielleicht auch dadurch erst zu erkennen, dass man sich stärker bemühen muss, um wirklich erklären zu können.

Die Verweise, die bisher produziert werden, scheinen alle richtig und sind doch auf den zweiten Blick wenig befriedigend. Da ist von den erhöhten Strompreisen die Rede, die das Regime unter Präsident Bakiev und dem Premier Danijar Usenov Anfang des Jahres eingeführt hatte. Und mitten im Winter so der Bevölkerung auch noch die letzte Aussicht auf eine Flucht vor der Kälte nahm. Oder es wird auf die ausufernde Vetternwirtschaft hingewiesen, die Bakiev im letzten Jahr mit der Ernennung seines Sohnes Maksim zum ersten Investitionsverwalter des Landes offizialisierte. Und die alles Gerede von den Idealen der Tulpenrevolution am Jahrestag, dem 24 März vor knapp zwei Wochen, blanken Hohn werden ließ. Immer wieder taucht auch die Erwähnung der rabiaten Privatisierungen auf, also des staatlichen Ausverkaufs der Energieholdings wie Severoelektro oder Dzhalal-abad Elektro und der staatliche Telekommunikationsanstalt. Schließlich dürfen die Repressionen nicht vergessen werden, die unter Bakiev ungekannte Ausmaße angenommen hatten. Und die mit der Ermordung des Journalisten Gennadij Pavljuk im Rahmen einer Operation kyrgyzischer Geheimdienstler in Almaty im Dezember 2009 einen traurigen Höhepunkt erreichten.

Kundige der Internationalen Beziehungen bemühen darüber hinaus die Implikationen des ‚Great Game‘ in dieser ganzen Episode. Schließlich hat Russland in einer völlig neuen Vorgehensweise gegen das Regime Bakiev agitiert, indem es durch kritische Berichte den staatlichen Sendern in Kyrgyzstan Paroli bot; und den Menschen vor Ort eine echte Informationsalternative. Der Grund für dieses Verhalten des russischen Spitzenduos machen Beobachter geschwind aus. Der Bruch des noch im Frühjahr 2009 abgegebenen Versprechens Bakiev, die Amerikaner von ihrer Basis auf dem hauptstädtischen Flughafen Manas zu vertreiben, ließ Putin die Zornesröte ins Gesicht steigen. Dem Fass den Boden aus schlug dann aber die Zweckentfremdung der von Russland geleisteten Kredite in Höhe von 300 Millionen Dollar, an denen sich die Familie der Bakievs bereicherte. Besonders Sohn Maksim in der extra für ihn geschaffenen neuen ‚Zentralen Agentur für Entwicklung, Investitionen und Innovationen‘ nutzte allen Gerüchten nach die Gelder, um sein Geschäftsimperium auszudehnen und dabei noch mit den Amerikanern weiter anzubandeln. Vielleicht, so kann man auch vermuten, ging es den Russen weniger um das Ausmaß des Betrugs, als vielmehr um die Form, um dieses unverfrorene Bereichern vor aller öffentlichen Auge. Vielleicht war es Putin peinlich? Zumindest ist allen Strategisierern in den Internationalen Beziehungen eine weitere Buchseite aufgeschlagen, die bisher viele Fragezeichen, aber noch wenige gute Erzählungen enthält.

Meine Vermutung ist, dass gute Erzählungen, auch wissenschaftliche Erklärungen, erst dann produziert werden können, wenn sich vor Ort Anstrengungen, gleiches zu tun, in erste Resultate übersetzen. Was natürlich nicht bedeutet, dass man nicht frank drauflos räsonieren sollte. Auch so bieten die Ereignisse vom 7. April Anlass genug, Überlegungen anzustellen, wie man sie wohl fassen kann. Mindestens ist die Formulierung von interessanten Fragen drin, um so weiteres Nachdenken anzuregen. Ich möchte mich an dieser Stelle auf drei Momente konzentrieren, die ich nach wie vor nicht richtig sortiert bekomme, von denen ich aber glaube, dass sie in späteren Erzählungen vorkommen werden. Und wenn nicht als die alles entscheidende unabhängige Variable, so doch vielleicht als eine irritierende Fußnote? Die erste Frage lässt sich mit dem Begriff der ‚twitter Revolution‘ bezeichnen, die zweite beschäftigt sich mit der Gewalt, und die dritte zielt auf den Zeitpunkt der Ereignisse ab.

In einem Bericht zu den Ereignissen in Kyrgyzstan heißt es: „I have little doubt that the Kyrgyz protests, like those in Iran last summer, are going to be described as a ‚Twitter Revolution‘ — a hyperbolic term coined to describe the role of social media in battling authoritarian regimes.“ (Let the Revolution Be Archived, by Sarah Kendzior, 7 April 2010, Registan.net). Die Autorin berichtet von ihrer Jagd auf Informationen im Netz über die Ereignisse und ihre ‚live‘ Verbindung nach Kyrgyzstan, hergestellt über twitter, Facebook, YouTube und andere social media. Heute lese ich von bewundernden Iranern, die sich für ihre Strapazen im vergangenen Jahr während der Grünen Revolution ein ähnliches Resultat gewünscht hätten. Den Sturz des Tyrannen. Und die sich über die Ereignisse in Kyrgyzstan mit Hilfe des Netzes informieren.

Es mag angesichts der chaotisch agierenden Massen auf dem Platz und der Stöcke schwingenden Jugendlichen nicht unmittelbar der Eindruck entstehen, hier seien Handy bewaffnete Demonstranten am Werk. Und doch liefen in den Nachmittagsstunden des 7. April die Nachrichten auf twitter, die tweets, im fünf Sekunden Rhythmus über den Ticker. Auf YouTube und anderen Videoportalen erschienen ständig neue Videos, manche mit Handykamera gefilmt, manche von Reportern vor Ort gedreht. Das Internetforum diesel.elcat.kg schien zu Beginn als Diskussionsplattform zu dienen, wurde dann wohl gesperrt, anschließend gespiegelt und irgendwann später wieder geöffnet. Auch hier liefen permanent Informationen ein, während auf Email- Listen wie ‚Kelkel‘ sich Aktivisten organisierten und über Ereignisse überall im Land auf dem Laufen hielten. Auf twitter, viel stärker als auf Facebook, entwickelten sich umgehend auch Strukturen aus. So war nach kurzer Zeit ein ‚hash tag‘, also ein Schlüsselwort zur Wiedererkennbarkeit eines Themenbezugs, umgehend in der griffigen Formel ‚#freekg‘ gefunden. Andere wie ‚#Kyrgyzstan‘ oder ‚#newskg‘ flankierten und ermöglichten so eine schnelle Orientierung. Irgendwann stand auch die Möglichkeit zur Verfügung, mit einem ‚add-on‘ seine Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Mit einem kurzen Klick hatte man auf seinem Avatar eine kleine Kyrgyzstan Flagge hinzugefügt. Während der Grünen Revolution im Iran konnte man sich damals seinen Avatar grün einfärben lassen.

Auf Facebook war die Strutkurausbildung langsamer. Josh Belzman fragt noch am Abend des Mittwochs auf msnbc (The revolution will be tweeted, but not Facebooked, by Josh Belzman, April 07, 2010, msnbc.com), ob die Revolution hier nicht abheben will. Mit der Zeit kommt auch auf Facebook die Informationsmaschine ins Rollen, aber lose Kopplungen, wie sie twitter mit seinem völlig nutzerunabhängigen Aufbau bietet, sind hier kaum möglich. Videos wurden nichtsdestotrotz geposted, Solidaritätsbotschaften reingestellt und direkte Wünsche an Freunde und Verwandte abgeschickt. Schließlich boten die Chaträume bei Facebook auch immer wieder die Möglichkeit, für einen kurzen Moment direkt mit anderen Netznutzern in Kontakt zu treten.

Die ’social media‘ konnten ihre Funktion, vorsichtig vielleicht als Informationsmultiplikation bezeichnet, umso wirkungsvoller ausüben, je stärker sie mit herkömmlichen Kommunikationsmedien gekoppelt waren. Über Handy trafen immer wieder Nachrichten ein, die mich über neue Zustände woanders im Land informierten. Und die ich über twitter oder Facebook oder Emails wieder an andere Adressen weiter geben konnte. Auch das Fernsehen wurde, nachdem es in Form von KTR und NBT so gegen acht Uhr abends wieder zu senden begonnen hatte, teilweise in die neue Vernetzung miteinbezogen. Die kommentarlosen Berichte auf NBT beispielsweise wurden mit sms Nachrichten unterlegt, in denen Bewohner der Stadt sich über die Lage in Bishkek informieren konnten, Fragen stellten oder den Angehörigen der vielen Opfer ihr Beileid aussprachen. Auf KTR, dem ersten staatlichen Sender, gewannen die Interviewrunden, organisiert in einem Ersatzstudie, die Form eines personalisierten social media. Mit kurzen Unterbrechungen von wenigen Minuten wurden zwischen drei und vier Gesprächspartner an den Tisch gebeten, um ihre Eindrücke von den Ereignissen zu schildern, Aufrufe zu verkünden, Anschuldigungen zu erheben oder aber Vorschläge für weiteres Vorgehen zu unterbreiten. Nicht viel anders als auf twitter auch, nur eben ohne Avatar. Diese Interviewrunden wurden den ganzen Abend über organisiert, Dutzenden von Teilnehmern der Ereignisse war so die Möglichkeit gegeben zu berichten und zu informieren.

Vielleicht kann man in diesen Gesprächszirkeln einen Link sehen, der die chaotischen Massen und die twitterer zusammenführt? Die Ähnlichkeit in der Funktion besticht und es beeindruckt, wie schnell die stürmende und schlagende Masse an Zielgerichtetheit und Besonnenheit gewinnt, wenn plötzlich in schneller Abfolge Individuen von ihren Eindrücken berichten. Mit einem Mal bekommt das verwirrende Bild von der Straße Koordinaten und damit eine Struktur, die bestimmt nicht an den Grad der im Internet so elegant aufgestellten Selbstorganisation heranreicht, aber sicherlich den Vorwurf entkräftet, hier sei der gedankenlose Trieb der Masse am Werk.

In kommenden Analysen der Ereignisse vom 7. April in Kyrgyzstan muss meines Erachtens den Formen der Kommunikation eine besondere Rolle zugeteilt werden. Es ist doch eigentlich völlig unklar und unverständlich, wie in diesem Hinterhof der ehemaligen Sowjetunion die Rede von den social media geführt werden kann. Und doch scheinen neue Netzwerke irgendwie an den Ereignissen beteiligt, zumindest tragen sie ihr Scherflein dazu bei, Ereignisse entstehen zu lassen, wenn sie über Wirklichkeiten berichten, über die zuvor vielen nichts bekannt war. Die Frage spaltet sich also auf, zum einen in das Unverständnis gegenüber der Anwesenheit von social media in einem Kampf, der irgendwo am äußersten Rand der globalisierten Welt ausgetragen wird. Bezeichnend hier der Hinweis von Belzman auf den Suchbegriff ‚Kyrgyzstan map‘, der es am Mittwoch Abend noch unter die Top Ten bei Google geschafft hatte. Kyrgyzstan ist Peripherie und verlangt von den meisten Beobachtern, vorab einmal zu klären, wo es sich eigentlich befindet. Zum anderen bleibt die Frage, wie sich verschiedene Medien miteinander verknüpfen und wie Verweise in einem Medium Anschluss in einem anderen findet. Und so dafür sorgen, dass Ereignisse sich fortpflanzen und neue Veränderungen bewirken.

(Fortsetzung folgt)

Ich versuche mich daran zu gewöhnen, überrumpelt worden zu sein. Irgendwie wirkt vieles in Bischkek noch wie ein Ereignis, das irgendwo anders stattgefunden hat; nur nicht eben hier, ein paar Meter entfernt von dem Haus, in dem ich gerade wohne. Wahrscheinlich hat das mit den wenigen Möglichkeiten zu tun, die man als Ausländer so hat, um sich selber ein Bild von der Lage zu machen. Ein erster Spaziergang heute Nachmittag, also am Tag nach den Ereignissen, auf dem Platz vor dem Regierungssitz, dem ‚Weißen Haus‘, wird relativ schnell abgebrochen, da Kommentare auf mein Fotografieren nicht gerade freundlich ausfallen. Ich laufe zum Büro meiner Stiftung, versuche wenig aufzufallen, und kann nicht umhin, an mir selber eine gewisse Unruhe festzustellen. Vor zwei Tagen hätten mir all die Leute, die nicht viel anders aussehen als sonst auch, keine Sorgen bereitet, heute tun sie es schon. Ich wechsle Straßenseiten, schaue mich häufiger um, versuche in Bewegung zu bleiben. Alles nichts großartiges, eher das kleine EinmalEins der Vorsicht.

Was mir wahrscheinlich in den Knochen sitzt, ist die Nachricht darüber, dass es hier zu so vielen Opfern gekommen ist. Das macht alles so unberechenbar. Inzwischen sprechen die Medien in Kyrgyzstan von über 70 Toten. Und überall im Netz kann man sich die Bilder anschauen. Bilder von erschossenen Demonstranten, die weggetragen werden von Personen, die sich dabei ebenfalls dem Feuer der Sicherheitskräfte ausgesetzt sehen.

Ich hatte lange nicht geglaubt, dass es soweit kommen würde. Selbst als ich nachmittags am 7. April in meinem Büro die ersten Explosionen und Schüsse hörte, rechnete ich nicht mit Opfern, auf keinen Fall mit gezielten Tötungen. Das roch alles vielmehr nach einer Wiederholung von Szenarien, wie ich sie hier im November 2006 oder im April 2007 erlebt hatte. Auch damals waren Demonstranten auf Sicherheitskräfte gestoßen, es kam zu Ausschreitungen und die Milizija griff mit Schall- und Gasgranaten ein. Es wurde auch damals mit Gummigeschossen gefeuert, aber diese Maßnahmen hatten immer nur zu Verwundeten geführt, und das auch in einer verhältnismäßig geringen Anzahl. Als ich dieses Mal Gewehrfeuersalven hörte, vergleichbar mit Feuer aus Schnellfeuerwaffen, dachte ich an Schreckschusspistolen; wieder nicht an Versuche, den Demonstranten Verluste beizufügen.

Ich wurde am späten Nachmittag von Freunden eines Büromitarbeiters zu meiner Familie in den Randbezirken von Bischkek gebracht. Wir fuhren mit dem Wagen an der Straße des ZUM, des großen Kaufhauses am östlichen Ende des Stadtzentrums, vorbei, schauten kurz Richtung Mitte, dachten uns nicht viel und fuhren weiter. Zu Hause, in Bakaj-Ata angekommen, waren wir zwar alle besorgt, aber eben auf Grund von drohenden Plünderungen, weniger aus Sorge vor möglichen Opfern unter den Protestlern. Dabei hatten sich inzwischen die Gerüchte insoweit erhärtet, dass von Toten nun jeder ausging. Aber von den Aufrufen nach Blutspenden, wie sie einige Stunden später über den Bildschirm flimmern sollten, waren wir auch da noch entfernt. Oder ich war es zumindest.

Vielmehr neue Informationen gab es dann erst mal nicht. Irgendwie über twitter im Netz hin zum Handy und an meine Familie kam schließlich die Nachricht, dass KTR von der Opposition eingenommen worden sei. Die Einnahme dieser staatlichen Sendeanstalt erklärte zumindest, warum es seit einiger Zeit keine Sendungen mehr gäbe. Und gleichzeitig gab es uns die Hoffnung, dass die Opposition weiterhin in Bewegung ist. Schließlich waren uns zu diesem Zeitpunkt keine Neuigkeiten über den Verbleib der Anführer der Oppositionsbewegung bekannt. Das letzte was wir gehört hatten, und was ich im Büro noch über twitter, Facebook, YouTube, Email-Listen und Blogs und andere On-Line gestützte Newsportale erfahren hatte, war, dass Oppositionsführer wie Omurbek Tekebaev, Temir Sariev, Dujshen Chotonov, Bolot Sherniyazov oder Anvar Artikov verhaftet worden waren und die offizielle Chefin des Exekutivkomitees des Volkskurultajs, Roza Otunbaeva, sich versteckt halte. So hatte das zumindest ihre Abgeordnetenkollegin Irina Karamushkina noch am Morgen bei einer Ansprache vor Demonstranten erklärt. Auch hier war ein entsprechendes Video im Netz gelandet.

KTR fing plötzlich wieder an zu senden, so gegen sieben oder acht, glaube ich. In einem provisorisch eingerichteten Studie waren zwei Tische im Rechteck aufgestellt. Ein Fragen stellender Journalist bat von nun an in geordneter Reihenfolge Teilnehmer der Proteste und bekannte Persönlichkeiten um ihre Meinung. Es wurde hier auch die Chance wahrgenommen, Aufrufe zu verkünden und generell zu informieren über das, was im Land passiert. Unruhig machten dabei die Bestätigungen, dass es zu vielen Toten gekommen war, wie auch die Tatsache, dass unter den Befragten keine politischen Schwergewichte saßen. Von Tekebaev, Otunbaeva oder Atambaev keine Spur. Stattdessen der Aufruf von Demonstrationsteilnehmern, die Führer der Oppositionsbewegung endlich frei zu lassen. Man wusste bereits, dass sie vom Geheimdienst, dem SNB, gefangen gehalten wurden. Sie waren also wahrscheinlich ebenfalls im Zentrum der Stadt, schließlich hat der SNB seinen Hauptsitz an der Straße Zhibek Zholu (Seidenstraße), die man vielleicht als die nördliche Grenze des Zentrums bezeichnen kann.

Kurz nach Sendebeginn von KTR setzte auch wieder der Sender NBT mit der Berichterstattung über die laufenden Ereignisse seine Tätigkeit fort. Dabei konzentrierte sich der Sender, der angeblich ansonsten nur Musikvideos spielt, auf die Kommentarlose Wiedergabe von Videomaterial über die Vorgänge in Bischkek. Bei den Bildern wurde schnell klar, dass es zu Toten unter den Demonstranten gekommen sein musste. Immer wieder wiederholte sich das Spiel feuernder und vorrückender Sicherheitskräfte und anschließender Stürme seitens der Protestler. Irgendwann müssen sich die Sicherheitskräfte auf das Territorium des Weißen Hauses zurückgezogen haben. Und die Demonstranten müssen versucht haben, auch hier zum Sturm anzusetzen. Zumindest zeigte das Fernsehen Bilder von LKWs, die in den Zaun des Weißen Hauses gefahren worden waren. An manchen Stellen brannte die Befestigung, an anderer war der Zaun durchbrochen. Dahinter allerdings verbargen sich die Sicherheitskräfte und hielten die Demonstranten mit ihren Gewehrsalven auf Distanz. Das müssen jene Momente gewesen sein, bei denen ich mich in meinem Büro an die Zeiten in 2006 und 2007 erinnert gefühlt hatte. Nur, das zeigten die Bilder dieses Mal deutlich, wurde auch scharf geschossen, eben nicht nur mit Gummigeschossen. Wer genau dabei was verschoss ist schwer auszumachen, aber die Bilder lassen vermuten, dass vom Dach aus Scharfschützen in die Menge feuerten. Das Wort ’sniper‘ (снайпер) machte immer wieder die Runde. Viel braucht es dann nicht mehr, um sich noch vorzustellen, dass auch die ein oder andere Salve an Gummigeschossen Menschenleben gekostet hat.

Spätestens gegen 10 Uhr abends, als die Aufrufe zur Blutspenden einsetzen, wieder auf NBT, war klar, dass es um Dutzende Tote geht, und um gezielte Tötungen. Wir sahen Verletzte mit Wunden am Kopf, alle berichteten davon, dass auf die Köpfe der Demonstranten gezielt worden sei. Die Zahl der Opfer stieg derweil auf über 40 und war jenseits aller möglichen Vorstellung von wenigen tragischen, aber letztlich verrechenbaren ‚Kollateralschäden‘. Einzigen Trost in diesem Moment spendete die Nachricht, dass die Oppositionsführer aus der Haft befreit worden waren. Bereits einige Minuten zuvor war unangekündigt Temir Sariev, der Chef der Partei Ak-Shumkar und ein ewiger Streiter gegen das Regime Bakiev, als einer der Befragten aufgetaucht. Als er mit seiner Rede einsetzte, brach die Übertragung ab. Unsere Sorge legte sich dann mit der Nachricht, dass die Politgefangenen in Freiheit seien. Irgendwann dann im Laufe des späteren Abends, eigentlich schon Nacht, tauchte schließlich Tekebaev im Fernsehen auf, der deutlich machte, dass es zur Zeit Verhandlungen mit dem Premierminister Danijar Usenov gäbe, der im Weißen Haus sitze mit knapp 1000 Mann der Sicherheitskräfte. Einziger Verhandlungspunkt sei dabei die bedingungslose Aufgabe und wohl die Form der Räumung des Gebäudes. Über den Präsidenten Bakiev waren zu diesem Zeitpunkt nur Gerüchte im Umlauf. Irgendjemand hatte gehört, der Präsident hätte sich nach Deutschland abgesetzt. Ein Gerücht mit Verweiskraft, schließlich ist der Bruder des Präsidenten, Marat Bakiev, Botschafter Kyrgyzstans in Deutschland und sitzt in der Botschaft in der Otto Suhr Alle in Berlin. Hinzu kommt, dass sich Deutschland auf die medizinische Betreuung zentralasiatischer Diktatoren spezialisiert hat und auch Bakiev in der Vergangenheit mit seinem Beinleiden zu Hilfe eilte.

Die letzten Nachrichten, die wir an diesem Abend erfuhren, waren eine kurze Ansprache Roza Otunbaevas, die nun als Interimsregierungschefin agierte, erste Bilder und Informationen über die laufenden Plünderungen in Bischkek, Informationen über die hilflosen Versuche, diese zu unterbinden, und ein neues Gerücht, dass Bakiev in Kazakhstan gelandet sei. Die Anzahl der Toten stieg derweil in den Nachrichten auf über 50 in einigen Kommentaren. Bilder aus den Krankenhäusern bestätigten diese Berichte mit erschreckenden Belegen.

In Bakaj-Ata waren diese Nachrichten Informationen über Ereignisse in einer anderen Welt. Jeder wusste hier von ihnen und doch war es weit weg. Die Nacht über hörte man in meiner Nachbarschaft allein Hundegebell oder am frühen Morgen mal einen Hahn. Von den permanenten Schüssen, dem Lärm der Plünderungen, wie er sich im Zentrum Bischkeks erhob, war hier nichts zu vernehmen. Wir schliefen ungestört.